The Birth of a Global Nation
Die Geburt einer globalen Zivilisation*
Das menschliche Drama, ob es nun in Geschichtsbüchern
oder in Schlagzeilen erscheint, ist sehr oft nicht nur ein verwirrendes
Schauspiel, sondern ein Schauspiel der Verwirrung. Die große Frage ist
heute: Welche politischen Kräfte werden die Oberhand gewinnen,
jene, die Nationen zusammennähen oder die, die sie auseinanderzerren?
Dies ist die Meinung eines Optimisten, der glaubt, daß Einheit über
Zerstückelung siegen wird, Integration über Disintegration.
In der Tat wette ich, daß in den nächsten hundert Jahren (ich gebe
dabei der Welt Zeit für Rückschläge und mir ebenso, um
aus der Wette auszuscheiden, falls ich sie verlieren sollte) der Nationalstaat
in seiner jetzigen Form veraltet sein wird; alle Staaten werden eine
einzige globale Autorität anerkennen. Eine Phrase, die in der Mitte
des 20. Jahrhunderts ganz kurz in Mode war "Weltbürger"
wird bis zum ausgehenden 21. Jahrhundert wirkliche Bedeutung erlangt
haben.
Alle Länder sind fundamental soziale Ordnungen, Anpassungen an
wechselnde Umstände. Ganz gleich, wie dauerhaft und heilig sie
auch erscheinen mögen zum jeweiligen Zeitpunkt, so sind sie doch
alle künstlich und temporär. In den vorausgegangenen Zeitaltern
bestand eine allgemeine Ausrichtung auf Ausweitung größerer Gebiete
an Souveränität und paradoxerweise eine stufenweise Einschränkung
von echter Souveränität, die ein Land tatsächlich ausübt.
Der Vorläufer der Nation war eine prähistorische Horde, die
in einem Flußtal um das Lagerfeuer versammelt war. Ihre Mitglieder besaßen
eine Sprache, eine Sammlung von übernatürlichen Glaubenssätzen
und ein Repertoire von Legenden über ihre Vorfahren. Schließlich
schmiedeten sie primitive Waffen und machten sich auf über die
Berge, brummelten Phrasen, die grob übersetzt etwas zu tun hatten
mit "bedeutenden nationalen Interessen" und "offenbarter
Vorsehung". Im Nachbartal angekommen, metzelten sie eine schwächere
Bande, die um ein kleineres Feuer versammelt war, nieder oder versklavten
sie und wurden so zu den ersten Imperialisten.
Weltreiche waren mächtige Kräfte zur Auslöschung von
natürlichen und demografischen Schranken und zur Herstellung von
Verbindungen in weit entfernten Teilen der Welt. Die Briten hinterlie?en
ihr Verwaltungssystem zurück in Indien, Kenia und Guyana, während
die Spanier, Portugiesen und Franzosen den Römischen Katholizismus
auf fast jedem Kontinent verbreiteten.
Weltreiche brachten schließlich den Nationalstaat hervor, der hauptsächlich
ein einziges Volk umfaßte. China, Frankreich, Deutschland und Japan
sind überlebende Beispiele. Und doch ist jedes dieser Länder
eine Folge eines jahrhundertealten Prozesses des Wachstums. Viel Blut
mußte erst vergossen werden in den Tälern der Normandie, der Bretagne
und Gascogne, um Teile Frankreichs zu werden.
Heute sind weniger als 10 % der 186 Länder der Welt ethnisch homogen.
Der Rest sind multinationale Staaten. Die meisten von ihnen haben ihre
Grenzen nach außen erweitert, sehr oft bis ans Meer. So wurde Kalifornien
auch Teil der USA und die Halbinsel Kamchatka Rußland einverleibt.
Das Hauptziel im Prozeß der politischen Ausdehnung und Konsolidierung
war Eroberung. Die Großen absorbierten die Kleinen, die Starken die
Schwachen. Nationale Macht schaffte internationales Recht. Eine solche
Welt war mehr oder weniger in einem dauernden Kriegszustand. Von Zeit
zu Zeit fragten die grö?ten Denker, ob das nicht ein höllischer
Weg sei, die Welt zu managen; vielleicht sei die nationale Souveränität
doch nicht eine solch großartige Idee. Im 14. Jh. war es Dante, im 16.
Jh. Erasmus, im 17. Jh. Grotius, denen ein internationales Recht vorschwebte,
um die natürliche Neigung der Staaten, ihre Meinungsverschiedenheiten
mit Gewalt auszutragen, zu überwinden.
Im Zeichen der Aufklärung im 18. Jahrhundert waren es Rousseau
in Frankreich, Hume in Schottland, Kant in Deutschland, Paine und Jefferson
in den USA, die sagten, daß alle Menschen gleich geboren seien und als
Bürger bestimmte Grundrechte und Freiheiten einschließlich der
Wahl ihrer Führer besäßen. Sobald eine universale Ideologie
für eine Regierungsform für das eigene Volk bestünde,
wäre es wohl vernunftmäßig anzunehmen, daß sich dies auf das
Verhältnis der Staaten untereinander ausdehnen würde. Im Jahre
1795 schlug Kant eine "Friedensliga der Demokratien" vor.
Doch erst die Ereignisse unseres wundersamen und zugleich schrecklichen
Jahrhunderts schafften die Einsicht zur Errichtung einer Weltregierung.
Die Erfindungen von Elektrizitätät, Radio und Flugreisen haben
den Planeten schrumpfen, das kommerzielle Leben freier, die Nationen
abhängiger voneinander und die Konflikte blutiger werden lassen.
Der Preis für die Lösung internationaler Konflikte durch Gewalt
wurde auch bald zu hoch für die Sieger, die Besiegten schon mal
gar nicht zu erwähnen. Zu diesem Schlu? hätte man schon in
der Somme-Schlacht im Jahre 1916 kommen sollen; bis zur Zerstörung
von Hiroshima im Jahre 1945 war es dann unvermeidlich.
Wiederum waren große Denker gleicher Meinung: Einstein, Gandhi, Toynbee
und Camus, höheren Interessen als denen der Nation den Vorrang
zu geben. Ihnen folgten schließlich auch viele Staatsmänner. Jeder
Weltkrieg belebte wiederum den Plan der Schaffung einer internationalen
Organisation, den Völkerbund in den 1920er Jahren und die Vereinten
Nationen in den 40ern.
Der Plan verdichtete sich mit dem Auftauchen des schweren Atems der
neuen Art von Ideologien expansionistischer Totalitarismus wie er
von den Nazis und den Sowjets verübt wurde. Das bedeutete eine
Bedrohung für die Idee der Demokratie und zerspaltete die Welt.
Der Plan für eine Art von Weltregierung wurde höchst verdächtig.
Bis zum Jahre 1950 war die Bezeichnung "Einweltler" ein Begriff
der Verachtung für naive Spinner bis hin zu verkappten Kommunisten.
Stalins Eroberungen von Osteuropa spornten die Westlichen Demokratien
jedoch zur Gründung der NATO an, eine der ehrgeizigsten, dauerhaftesten
und erfolgreichsten Unternehmen in kollektiver Sicherheit. Die USA und
die Sowjetunion machten einander angst und bange mit dem Ergebnis von
Atomwaffenkontroll-Verträgen, die schließlich zwei wichtige Prinzipien
aufstellten; nämlich da? verfeindete Staaten ein gegenseitiges
Interesse daran haben, die Gefahr von strategischen berraschungen
zu vermeiden und jeder ein Recht hat, in der Zusammensetzung des Arsenals
des anderen als letzte Zuflucht mitzubestimmen. Das Ergebnis war eine
weitere Schwächung von nationaler Souveränität und schaffte
damit einen nützlichen Präzedenzfall für die Handhabung
von Beziehungen für Zukünftige Atomwaffenrivalen.
Der Kalte Krieg trug bedeutend zur Bildung der Europäischen Gemeinschaft
bei, einem regionalen Zusammenschluß, der auf dem Wege der Globalisierung
dienen mag. Zwischenzeitlich gründete die Freie Welt multilaterale
Finanzinstitutionen, die zu einem gewissen Grade auf Bereitschaft des
Verzichts von Souveränität beruht. Der Internationale Währungsfond
kann praktisch die Fiskalpolitik eines Staates diktieren einschließlich
dem Steuererhebungssatz, den die Regierungen erheben sollten. Das GATT-Abkommen
legt die Zollsätze auf Importe fest. Diese Organisationen können
als Protoministerien für Handel, Finanz und Entwicklung für
eine vereinte Welt dienen.
Die internen Angelegenheiten einer Nation lagen bisher außerhalb des
Gebietes der Weltgemeinschaft. Jetzt gewinnt das Prinzip von "humanitärer
Intervention" Anerkennung.
Ein Wendepunkt kam im April 1991, kurz nach dem Rückzug von Saddam
Hussein aus Kuwait, als der UN-Sicherheitsrat die alliierten Truppen
bevollmächtigte, den hungernden Kurden im Nordirak zu helfen.
Die Globalisierung hat ebenfalls zur Ausweitung von Terrorismus, Drogenhandel,
AIDS und Umweltzerstörung beigetragen. Aber weil diese Bedrohungen
nicht von Nationen im Alleingang gelöst werden können, bedeuten
sie einen Ansporn zur internationalen Zusammenarbeit.
Die Erfolge des Erdgipfels in Rio im vorigen Monat mögen begrenzt
sein, doch sie bedeuten immerhin die Annahme von dem, was Maurice Strong
das Hauptimpresario des Ereignisses durch die Teilnehmer nennt, nämlich
die "transzendentale Souveränität der Natur"; da
die Nebenprodukte der industriellen Kultur grenzüberschreitend
sind, muß es auch die Autorität sein, die dafür zuständig
ist.
Kollektive Handlungen auf globaler Ebene sind leichter zu erreichen
in einer Welt, die bereits miteinander verwoben ist durch Kabel und
Wellensender. Die FAX-Maschine hat viel zu tun mit dem Sturz von Tyrannen
in Osteuropa. Vor zwei Jahren wurde mir eine Dolmetscherin aus Estland
zugewiesen, die mit einem Südstaaten-Akzent sprach, weil sie ihre
Englischkenntnisse aus der Fernsehfolge "Dallas" erlernt hatte.
Die Cosby-Sendung, die man auf dem Bildschirm in Südafrika sehen
kann, hat sicherlich auch zur Aushöhlung der Apartheid beigetragen.
Diese ideologische und kulturelle Vermischung trifft manchen Beobachter
als zuviel des Guten. In einem Artikel im Atlantic-Magazin bedauert
Rutgers Politikwissenschaftler Benjamin Barber, was er mit "McWelt"
bezeichnet. Er stellt auch die Gegenströmung heraus, nämlich
den wiederentstehenden Nationalismus in seiner häßlichsten, trennenden
und gewalttätigen Form. Aserbaidschan, Moldawien und die Tschechoslowakei
waren zuvor Teil des letzten jetzt gestorbenen Weltreiches. Das Auseinanderbrechen
mag vielleicht der alte Gang der Geschichte sein und nicht die Welle
der Zukunft. Nationale Selbstbehauptung im Westen kann sehr häßlich
sein, besonders in den extremen irischen und baskischen Fällen.
Doch wenn Schotten, Quebeker, Katalanen und Bretonen über Separatismus
sprechen, so meinen sie damit Neuverhandlungen ihrer Bindungen zu London,
Ottawa, Madrid und Paris.
Es sind lediglich Meinungsstreitigkeiten, die im Grunde ein größeres
positives Phänomen darstellen: eine Machtübertragung nicht
nur nach oben in Richtung auf übernationale Körperschaften
und nach außen auf Commonwealth und gemeinsame Märkte hin, sondern
auch nach unten zu offeneren, autonomeren Einheiten und Verwaltung,
um bestimmten Gesellschaften die Erhaltung ihrer kulturellen Identität
und Selbstverwaltung soweit als möglich zu bewahren. Das amerikanische
Wort "Ermächtigung" und das europäische "Hilfeleistung"
werden lokal, regional und global alle gleichzeitig definiert.
Die Menschheit hat durch viele Prüfungen und entsetzliche Irrtümer
entdeckt, daß Unterschiede nicht spaltend sein müssen. Die Schweiz
setzt sich zusammen aus 4 Nationalitäten, die in einem Gebiet zusammengepfercht
sind, das wesentlich kleiner ist als das ehemalige Jugoslawien. Die
Luft in den Alpen ist nicht international verbindlicher als die des
Balkans. Die Schweiz hat sich jedoch zu einem blühenden Land entwickelt,
während Jugoslawien versagt hat, und der Grund ist der, den Kant
schon vor 200 Jahren anführte, nämlich, um in einem friedlichen
Bund miteinander zu leben, brauchen Menschen und Völker die
Wohltaten der Demokratie.
Der beste Mechanismus für die Demokratie, ob auf der Ebene des
multinationalen Staates oder dem Planeten als Ganzem ist nicht ein allmächtiger
Leviathan oder ein zentralisierter Superstaat, sondern eine Föderation,
ein Bund verschiedener Staaten, der bestimmte Rechte einer Zentralregierung
zugesteht, während er viele andere für sich behält.
Föderalismus hat sich bereits als das erfolgreichste aller politischen
Experimente erwiesen und Organisationen wie die Weltföderalisten-Bewegung
waren bereits seit Jahrzehnten ihre Fürsprecher als Grundlage für
eine Weltregierung. Föderalismus ist größtenteils eine amerikanische
Erfindung. Trotz aller Schwierigkeiten einschließlich einem ernsten
Anfall von Abspaltung vor 130 Jahren und der Beharrung von verschiedenen
Arten von neuerlichen Stammesgefühlen sind die USA immer noch das
beste Beispiel eines multinationalen Bundesstaates. Wenn das System
wirklich global funktionieren sollte, so würde das eine logische
Ausdehnung der Weisheit der Gründerväter bedeuten und damit
eine besondere Quelle der Freude für eine Weltregierung dieser
Art für die amerikanischen Wähler sein.
Im Hinblick auf die Menschheit als Ganze, wenn sie einmal föderalistisch
vereint ist, wären wir nicht so sehr weit entfernt von unseren
Urahnen, die ums Lagerfeuer am Flu?ufer herumhockten; nur daß die ganze
Welt unser Tal sein wird.
* Übersetzung eines
Essay aus dem TIME Magazine vom 20. Juli 1992. Orginaltitel "The
Birth of a Global Nation". Mit Dank an Verlagsleitung und Chefredaktion
des TIME Magazins. Der englische Orginalessay ist über das Sekretariat
von WFM-Germany erhältlich (frankierter Rückumschlag und 3
€ in Briefmarken). Strobe Talbott, Universitätsfreund von Bill
Clinton, war zum Zeitpunkt des Erscheinens US-Sonderbotschafter und
wurde zeitweise Vize-Außenminister der Vereinigten Staaten von
Amerika. 1993 erhielt er den "Norman Cousins Global Governance
Arward" der Weltföderalisten für seine inter- und übernationale
Bemühungen in Richtung einer multikulturellen und demokratischen
Weltföderation. Für die Mithilfe bei der Übersetzung des Essays
danke ich Frau Anita Elvira Tullis.