Die neutrale Schweiz und das globale
Dorf
Kofi
Annan konnte im September 2002 als erster Generalsekretär einen
neuen Mitgliedstaat den 190. in der UNO begrüßen,
in welchem das Volk selbst den Beitritt beschlossen hat. Die viel zitierte
Formel We, the Peoples . . . gilt also hier wörtlich.
Der Entscheid fiel am 3. März 2002 in einer schweizerischen Volksabstimmung.
Sowohl im Volk als Ganzem wie auch auf der Ebene der Kantone kam eine
Mehrheit für den Beitritt zustande. 16 Jahre früher, 1986,
hatte sich bei einem ersten Anlauf noch eine Mehrheit von 75% gegen
einen Beitritt ausgesprochen. Es herrschte damals noch ein Missverständnis
des alten schweizerischen Neutralitätsgrundsatzes, und die soliden
Informationen über die Aufgaben und die realen Möglichkeiten
der UNO waren noch zu wenig ins Bewusstsein des Volkes eingesickert.
Das hat sich nun beim zweiten Versuch gründlich geändert,
und daran hatte das politische Profil des Generalsekretärs Kofi
Annan ganz wesentlichen Anteil. Er war der Sprecher der UNO, dessen
Aufrichtigkeit und unaufdringlicher politischer Stil in der Schweizerischen
Eidgenossenschaft verstanden wurde. Seine Sachlichkeit und Bescheidenheit
und gleichzeitige Dezidiertheit, sein pragmatischer Realismus und seine
Hingabe an dasAmtvermochten das Herz der Eidgenossen anzusprechen und
eine gefühlsmäßige Sympathie für die UNO zu erwecken.
Es ist ja auch ein alter Gedanke, dass das afrikanische Paradigma des
Palavers und die schweizerische direkte und föderalistische Demokratie
mit ihrempower sharing und Konkordanz-Charakter miteinander verwandte
politische Strukturen sind: ein anhaltendes Ringen um Verständigung
in beiden Fällen. Früher hatten noch viele Schweizer ihre
ererbte und in wichtigen Fällen bewährte außenpolitische
Maxime der Neutralität als Abstentionismus verstanden. Im Kreis
der UNO wird das Land nun 12 Kofi Annan gratuliert Bundesrat Kaspar
Villiger am 10. September 2002 zum UNO-Beitritt der Schweiz gründlich
umlernen müssen, und es gibt dazu auch schon wichtige Ansätze.
Wie sehr Neutralitätspolitik eine aktive Friedenspolitik sein kann,
konnte man etwa in der alten KSZE beobachten, wo die N+N-Gruppe, und
in ihr vor allem die Neutralen (Finnland, Österreich, Schweden
und die Schweiz), das Amt zu versehen hatten, die Mitglieder der großen
Blöcke zusammenzuführen, so dass bei allen Gegensätzlichkeiten
doch immer wieder Konsense möglich wurden. Es ist kein Widerspruch,
sondern eine reale Möglichkeit, durch eine subtile Neutralitätspolitik
Positionen zu vertreten undVorschläge zu machen, die niemanden
vor den Kopf stoßen und dennoch markant und weiterführend
sind. Der neutrale Mitspieler muss sich immer anstrengen, ein Champion
des Plus-Summen-Spiels zu sein. Vielleicht gibt es auch noch weitere
Potenziale in der politischen Erfahrung eines Kleinstaates für
die Weltpolitik. In einem kleinen und demokratisch organisierten Gemeinwesen
kennen sich die Menschen, und der menschliche Faktor spielt eine nicht
zu unterschätzende Rolle. Und eine zunehmende Personalisierung
der zwischenstaatlichen Kontakte prägt in unserer Epoche auch das
Bild der Politik auf unserem Planeten. Die Regierenden der Nationen
verkehren Vorwort 13 nicht mehr wie einst primär durch Noten und
Diplomaten miteinander, sondern kennen sich persönlich als Gegenüber
und werden manchmal auch Freunde. Der persönliche Austausch und
die direkte Verhandlung versprechen immer wichtiger zu werden. Man könnte
sich denken, dass diese Tendenz zur Personalisierung weiter zunimmt.
Dass beispielsweise einst nicht mehr nur der Generalsekretär
der UNO, sondern ebenso auch die Mitglieder des Sicherheitsrates ad
personam gewählt werden, nach einem Verteilungsschlüssel unter
den größeren Weltregionen, aber auf eine feste Amtsperiode
und unabhängig von den nationalstaatlichen Regierungen. (Wahrscheinlich
wäre dies sogar der einzige Weg, um das seit den Anfängen
der UNO umstrittene, ungelöste Problem der ständigen Sitze im
Sicherheitsrat und des Vetorechts zu entschärfen.) Im Kollegium,
das ein echtes und dauerhaftes ist, werden Menschen in die Lage versetzt,
gemeinsam vorauszudenken und in weitsichtiger Weise unfruchtbare Gegensätze
auszugleichen und eine kohärente Politik für die Zukunft auf
der ganzen Erde zu konzipieren. Dies sind Erfahrungen aus einem Kleinstaat
mit stark personalisierter Politik, die sich einst auch für die
neuen Probleme eines politischen Stils im Weltmaßstab als nützlich
erweisen könnten.